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Reizdarm: Die Sprache des Körpers verstehen

„Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist, ohne Bauchschmerzen zu leben“, sagte Frau M. in unserer ersten Sitzung. Sie war Anfang siebzig, vor wenigen Monaten war ihr Mann verstorben – ein plötzlicher, traumatischer Verlust nach über vierzig Ehejahren. Seitdem plagte sie ein ausgeprägter Reizdarm.„Ich kann kaum noch außer Haus gehen, ohne dass ich Angst bekomme, ob ich rechtzeitig eine Toilette finde.“


Interessanterweise hatte sie während der gesamten Ehe keine Beschwerden dieser Art.

Die Symptome waren erst nach dem Tod ihres Mannes aufgetreten. Ein Zufall? Wohl kaum.


Ein Leben im Schatten – und in Sicherheit


In den Sitzungen erzählte Frau M. von ihrem verstorbenen Ehemann – ein starker Mann, dominant, durchsetzungsfähig. „Wir hatten gute Jahre. Und schwere.“ Es wurde klar, dass ihre Dynamik viele Jahre von Anpassung und Zurückhaltung geprägt war. Sie war die Ausgleichende, die Nachgebende.„Ich hab mich oft untergeordnet. Es war eben so.“


Doch sein Tod war nicht nur ein Verlust. Er war auch eine Erschütterung einer inneren Ordnung, die über Jahrzehnte für Sicherheit gesorgt hatte – oder sie zumindest simulierte.

„Ich war nie mutig. Aber ich hatte ihn. Wenn wir meine Eltern besucht haben, war ich nicht allein. Ich hatte Schutz.“


Der Bauch spricht – was der Mund nicht sagen konnte


In einer Hypnosesitzung baten wir den Körper, zu sprechen. Wir wandten uns dem Reizdarm nicht als Feind, sondern als Botschafter zu.„Wenn du sprechen könntest“, fragte ich sie, während sie mit geschlossenen Augen in tiefer Trance lag,„was würdest du sagen?“Es dauerte einen Moment, dann flüsterte sie:„Ich habe Angst. Ich bin klein. Ich kann nicht weg.“

Wir forschten nach, woher sie dieses Gefühl kannte: Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt. Ihr Vater: streng, laut, kontrollierend. Der Ton scharf, die Stimmung angespannt.


„Wenn ich etwas falsch gemacht habe, kam der Blick. Dann das Schimpfen. Und manchmal auch eine Ohrfeige.“Die Mutter? „Hat geschwiegen. Hat weggeschaut.“


Die Angst war nie gegangen – sie hatte sich nur versteckt. Jahrzehntelang war ihr Ehemann wie ein emotionaler Puffer gewesen. Nach seinem Tod kehrte sie zurück: nicht im Kopf, sondern im Bauch.


Reizdarm als Schutzreaktion


Im Verlauf der Therapie wurde deutlich:Der Reizdarm war nicht das Problem, sondern ein Schutzmechanismus.„Er hält mich davon ab, den Forderungen meiner Eltern zu entsprechen, täglich mit ihnen zu telefonieren und sie dauernd zu besuchen.“


Der Körper zog die Grenze, die sie selbst nicht spürte.„Ich kann mich gegen meinen forderenden, egoistischen alten Vater nicht wehren. Ich brauche nach dem Tod meines Mannes meine Eltern, aber gleichzeitig ist jeder Kontakt traumatisch.“


Nachdem dieser innere Konflikt, bei dem es vermeintlich keine Lösung gab, klar ausgesprochen wurde, war das Arbeitsziel klarer und die Klientin begann, ihre Gefühle wahr- und ernst zu nehmen.


Gefühle zulassen – statt verdrängen


Frau M. erzählte mehr von ihrer Kindheit. Von der Enge. Von der Einsamkeit. Von der Ohnmacht. Und sie erlaubte sich zum ersten Mal, auch Wut zu spüren.„Ich war so wütend auf meinen Vater. Aber ich durfte das nie sein. Und auch auf meine Mutter – weil sie mich nicht geschützt hat.“


In einer Hypnosesitzung stand sie dem Vater innerlich gegenüber. Dieses Mal war sie nicht fünf – sondern die Frau, die sie heute ist.


„Du darfst mich nicht mehr anschreien“, sagte sie mit fester Stimme.„Ich bin kein Kind mehr.“ Und ihr Körper blieb standhaft.


Diese innere Klarstellung war ein Wendepunkt.


Stück für Stück zurück ins Leben


In den folgenden Wochen setzte Frau M. auch im Alltag neue Grenzen. Zum ersten Mal beendete sie ein Telefonat mit einem Verwandten, das sie stresste –


„Ich hab einfach gesagt: Das tut mir nicht gut. Ich leg jetzt auf.“


Sie begann, auf ihre Bedürfnisse zu hören. Und auch das Thema Partnerschaft kam vorsichtig zur Sprache.„Ich dachte, ich bin zu alt für eine neue Liebe. Aber da ist ein Wunsch. Ich darf ihn zulassen, oder?“

Ja, sie durfte.

Wir arbeiteten an ihrem weiblichen Selbstwert, an ihrer inneren Erlaubnis, sich zu zeigen, Bedürfnisse zu haben, Nähe zuzulassen – ohne sich selbst zu verlieren.


Die Auflösung


Der Reizdarm wurde leiser.„Ich hatte neulich einen ganzen Nachmittag ohne Beschwerden. Ich war spazieren. Ganz allein.“Und noch etwas: Frau M. lernte einen neuen Mann kennen.„Er ist ruhig. Sanft. Er hört zu. Ich bin nicht mehr die Kleine, sondern jetzt eher ein Teenager“


Fazit: Der Körper erinnert – und heilt mit


Reizdarm kann mehr sein als eine körperliche Funktionsstörung.Er kann ein emotionaler Ausdruck sein, eine Sprache des Körpers, die das ausspricht, was über Jahre nicht gesagt werden durfte: Angst, Wut, Schmerz, aber auch der Wunsch nach Selbstbestimmung, der aber die Angst bzw. ein Trauma entgegensteht.

Frau M. hat gelernt, sich selbst Schutz zu geben. Und damit brauchte ihr Körper das Symptom nicht mehr.Sie ist gewachsen – von der Angepassten zur Gestaltenden ihres Lebens.

 
 
 

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