Behandlungsbeispiel: Wenn alte Ängste zurückkehren
- silviawinter
- 11. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Retraumatisierung durch Kontextwiederholung und Auswirkungen auf die nächste Generation - Heilung in 3 Einheiten
Ausgangssituation
Frau F., etwa 40 Jahre alt, kam in meine Praxis, weil ihr dreijähriger Sohn seit Beginn des Kindergartens auffälliges Verhalten zeigte. Er war ungewöhnlich unruhig, zog sich zurück, spielte kaum mit anderen Kindern – und zeigte zu Hause zunehmend aggressives Verhalten. Frau F. vermutete, dass diese Entwicklung auch mit ihrem eigenen inneren Erleben zusammenhängen könnte.
Auch sie selbst erlebte das Kindergartenumfeld als belastend. Sie beschrieb eine kaum erklärbare, fast feindselige Abwehr gegenüber den Pädagoginnen, die sie als „unverhältnismäßig“ empfand. In Gesprächen fühlte sie sich klein, unsicher – manchmal wie erstarrt. Bei Elternabenden oder Festen war sie zwar körperlich anwesend, aber innerlich distanziert. Sie funktionierte – jedoch ohne Verbindung.
Zugang über Hypnose
Nach einer zielorientierten Besprechung der aktuellen Lebenssituation und der Lebensgeschichte definierten wir das Ziel der Hypnose: Ursachenfindung und Veränderung.
In der hypnotherapeutischen Arbeit gingen wir behutsam den Empfindungen nach, die Frau F. beim Betreten des Kindergartens wahrnahm. Sie beschrieb eine körperliche Starre, begleitet von dem spontanen Gefühl:
„Ich habe Angst. Ich fühle mich klein und machtlos.“
Auf die Frage, woher sie dieses Gefühl kenne, tauchte eine intensive frühe Erinnerung auf: Sie war etwa drei Jahre alt und lag mittags in einem Turnsaal auf dem harten Boden, auf dem Rücken, zugedeckt mit einer kratzigen braunen Decke. Die Kinder lagen in kleinen Kojen. Bewegung war verboten – wer sich drehte, wurde geweckt oder gar mit einem Stab geschlagen. Vor dem Schlaf mussten alle mit offener Tür auf die Toilette gehen. Wer im Schlaf einnässte, wurde beschämt, angeschrien – manchmal schlimmer.
Frau F. war im Erleben genau wieder dort. Sie konnte jedes Detail benennen: den Geruch des Raumes, das Licht, die Decke, die beklemmende Stille – und vor allem die Angst.
Innere Neuinszenierung
Ich fragte sie:
„Was möchtest du tun?“ „Ich will keine Angst mehr haben. Ich will frei sein.“ „Was würdest du tun, wenn du das jetzt könntest?“ „Ich würde aufstehen, durch den Turnsaal gehen, an den Kindergärtnerinnen vorbei – und mit den anderen Kindern eine wilde Party feiern. Ohne Aufpasserinnen. Einfach frei.“ „Dann tu es.“
Und sie tat es – innerlich, in ihrer Vorstellung. Sie stellte sich vor, wie sie aufstand, sich zwischen den Erwachsenen hindurchschlängelte, unbemerkt, weil diese gerade abgelenkt waren. Dann tanzte sie, lachte, tobte – gemeinsam mit den anderen Kindern.
Veränderung im Heute
Diese innere Neugestaltung wirkte tief. Zwei Wochen später berichtete Frau F., dass sie den Kindergarten nun anders wahrnehme – als einen Ort der Begegnung, der Lebendigkeit und Gemeinschaft.Auch ihr Sohn fand langsam Anschluss und begann, an Aktivitäten teilzunehmen. Es hatte sich spürbar etwas gelöst – bei beiden.
Therapeutische Einordnung
Was Frau F. erlebte, ist ein Beispiel für eine Retraumatisierung durch Kontextwiederholung. Bestimmte Situationen im Heute – wie der Eintritt des eigenen Kindes in eine Betreuungseinrichtung – können unbewusst Erinnerungen an frühere, nicht verarbeitete Erfahrungen aktivieren. Der Körper reagiert nicht auf die Realität der Gegenwart, sondern auf das damalige Erleben – meist ohne bewusste Verbindung.
Ist die Lösung in Hypnose Fiktion?
Ja – und nein. Die damalige Realität bleibt bestehen. Doch in der Hypnose wurde die Situation mit den heutigen inneren Ressourcen neu durchlebt.Frau F. ist heute eine erwachsene, handlungsfähige Frau. Sie kann Grenzen setzen, sich schützen und sich aus belastenden Situationen entfernen. Diese neue innere Erfahrung verändert die Wahrnehmung der Gegenwart – nachhaltig und spürbar.
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